Die Vorhänge waren nicht vollständig geschlossen. Die Sonne bekam die Chance, einen breiten, warmen Strahl in das Zimmer zu werfen. Marie räkelte sich unter ihrer Daunendecke und blinzelte. Nach einem Blick auf den Wecker grummelte sie etwas Unverständliches und versteckte ihr Gesicht unter dem schützenden Schatten des Daunengebirges. Es war Samstag, es war viel zu früh, um aufzustehen, und sie hatte Geburtstag!
Am Abend zuvor war Marie mit ihren beiden Freundinnen Sonja und Karla ausgegangen. Beim Wein hatten sie über so spannende Themen wie Romane, Männer, Dampfgarer und Briefkästen diskutiert. Und zwar lautstark, obwohl der Anlass der Zusammenkunft ja eigentlich das Hineinfeiern in Maries Ehrentag war. Diskutiert wurde insbesondere über Briefkästen. Sonja, die plante sich einen neuen zu kaufen, konnte sich nicht entscheiden, welches Modell zu ihrem Haus oder ihrem Nagellack passt. Der weiße vielleicht mit dem goldenen Posthorn? Oder doch der rosafarbene mit der praktischen Zeitungsrolle?
„Braucht man denn überhaupt noch Briefkästen?“, unterbrach Karla provokant die Farbdiskussionen. „Das ist ja, als würde man sich freiwillig die Kiste der Pandora an die Hauswand nageln. Was ist denn schon drin in so einem Kasten? Haufenweise Werbung vom Supermarkt, den ich sowieso nicht mag, Kataloge von Firmen, die ich nicht mal kenne, und am Ende auch noch Rechnungen und Mahnungen. Also Mädels, ich würde sagen, wir schaffen die Dinger einfach ab! Fertig!“
Marie lachte und widersprach: „Das geht nicht! Dann bekäme ich ja auch keine Post mehr von Verwandten und Freunden. Und keine Geburtstagskarten! So ein Brief ist doch etwas Schönes, Karla. Briefkästen sollte man auf keinen Fall abschaffen.“
„Und denk an die Liebesbriefe“, mischte sich nun auch Sonja ein. „Das wäre ja nun wirklich schade!“
Karla räusperte sich: „Mädels, ihr seid ja schräg drauf! Jetzt mal ehrlich, Sonja, wann hast du deinen letzten Liebesbrief bekommen?“
Sonja piepste: „Na ja, so vor zwanzig Jahren ungefähr.“
„Per Post?“, fragte Karla.
„Nein, der lag plötzlich auf meinem Schreibtisch“, gab Sonja zu und lief rot an.
„Und du, Marie? Bekommst du tatsächlich öfter Post von deiner Tochter oder den Enkeln? Von deiner Schwester? Oder von Freunden? Und haufenweise Geburtstagskarten bekommst du auch? Und schreibst du selbst auch Briefe?“
Marie schüttelte den Kopf. „Nein, manchmal bekomme ich eine SMS, Briefe sind selten. Aber ich schreibe manchmal welche, nur schicke ich die meistens nicht ab.“
„Na siehst du!“, meinte Karla zufrieden. „Du brauchst den Kasten also auch nicht.“
„Doch“, widersprach Marie, „ich brauch den Briefkasten! Gäbe es ihn nicht, dann könnte ich ja nicht einmal hoffen, dass sich die Kinder oder meine Bekannten melden. Ich bin immer ganz gespannt, wenn ich draußen den Postboten am Kasten klappern höre.“
Die Diskussionen der Freundinnen gingen stundenlang weiter, und um Mitternacht stießen sie fröhlich mit einem Glas Sekt auf Maries Geburtstag an. Aber da gab es etwas, was die drei nicht wissen konnten: Es war punktgenau die magische Zeit der unsichtbaren Briefe! Es gibt sie nur einmal im Jahr, die Sekunde zwischen Mitternacht und null Uhr an jedem 29. Februar. Die unsichtbaren Briefe waren und sind das große Mysterium der Post. Sie sind auch der Grund, warum die Postler ursprünglich verbeamtet wurden. Schließlich sind sie ja Geheimnisträger. Heute weiß kaum noch jemand von dieser wichtigen und geheimnisvollen Aufgabe der Post.
Das ist nämlich so: In den Briefkästen aller Häuser liegen nicht nur Rechnungen und Zeitungen. Da liegen auch alle Briefe, die jemand geschrieben, aber nicht versendet hat. Ja sogar solche, die er eventuell hätte schreiben wollen, und es nicht getan hat, werden ordentlich zugestellt. Aber weil sie unfertig sind, bleiben sie unsichtbar. Mancher Briefkasten hat wirklich schwer zu tragen, an all den unsichtbaren, nicht fertig geschriebenen und beabsichtigten Briefen. In den seltenen Fällen, in denen ein Brief immer wieder angefangen und dann nach langer Zeit doch noch ordentlich versendet wird, zerfällt der unsichtbare Brief im Kasten des Empfängers einfach zu Staub sobald ein echter angekommen ist. Manch einer hat sich sicher schon mal gewundert, warum sein Briefkasten von innen so staubig ist. Jetzt kennen Sie, lieber Leser, den Grund!
Wenn unsichtbare Briefe zehn Jahre lang in einem Briefkasten geschmort haben und zu seiner Ablösung immer noch kein fertiger Brief eingetrudelt ist, dann werden sie entsorgt. Das beginnt an jedem 29. Februar, direkt nach der magischen Sekunde und zieht sich über ganzen Tag hin. Die unsichtbaren Briefe gehen ihren letzten Weg in die große Briefentsorgungsstation und landen im Vernichtungsschlitz ge. Der Schlitz führt in einen dampfenden roten Stahlkasten, in dem die unsichtbaren Briefe verglühen.
Die drei Geheimnisträger, die das Werk vollenden müssen, sind triste graue Gestalten, die bei jedem einzelnen Brief die Klappe des Schlitzes poltern lassen, während sie schmerzhaft das Gesicht verziehen und bekümmert mit dem Kopf schütteln. Die Nachnamen der traurigen Herren sind mittlerweile bekannt. Sie lauten lauten Wäre, Wenn und Hätte. Die drei haben es immer eilig, und das Klappern des großen Kastens ist meilenweit zu hören. Rumms! Peng!
Marie schlug erschrocken die Augen auf. Sie musste wieder eingeschlafen sein unter ihrem Daunengebirge. Hatte sie gerade den Postboten klappern gehört? Mit einem Satz war sie auf den Beinen und rannte zur Haustür. Tatsächlich, der Briefkasten quoll fast über: Eine Rechnung, zwei Werbeprospekte, sieben Geburtstagskarten und der langersehnte Brief von ihrer Tochter!
Herzlichen Glückwunsch!