Spuren im Herbst

Else war eine schüchterne Frau, die selten den Mund aufmachte, es sei denn, sie wäre hungrig. Ihr silbergraues Haar war akkurat gescheitelt. Sanfte, nussbraune Augen dominierten ihr Gesicht. Über der Nasenwurzel zeigten sich seit kurzem tiefe, senkrecht stehende Kerben, die so gar nicht zu Else passen wollten. Besonders deutlich wurden diese Kerben, wenn sie an ihren Paul dachte.

Sie hatte ihn einmal sehr geliebt, ihm jeden Wunsch von den blass blauen Augen abgelesen und ihn nach allen Regeln der Kunst bekocht, was man ihm deutlich ansah. Sie hatte seine Wäsche gemacht und ihm Lust verschafft, wann immer Paul es für notwendig befand. Spätabends, wenn er sich bei Chips und Bier auf dem Sofa entspannte, war sie Putzen gegangen, um sich ein wenig Luxus leisten zu können. So waren Frühling und Sommer ihres Lebens dahingeflogen.

Vorige Woche hatte Else beim Staubwischen in Pauls Arbeitszimmer ein kleines Buch gefunden, welches sie noch nie gesehen hatte. Sie setzte sich in Pauls breiten Schreibtischstuhl und schlug es auf. In seiner schwungvollen Handschrift waren dort Namen, Daten und Orte eingetragen. Es waren ausschließlich Frauennamen, denen in Stichworten kurze Beurteilungen angefügt waren: Schöne Beine. Kitzelig in den Kniekehlen. Liebt Schokolade. Tanzt gern. Es waren mehr als hundert Namen und Daten, angefangen im September 1991, kurz vor ihrer Hochzeit. Der letzte Eintrag war gerade mal drei Wochen alt.

Else war fassungslos. Ihr wurde heiß und gleich darauf wieder eiskalt. Verstört starrte sie auf das Buch, während die Minuten dahintropften. Es verging fast eine Stunde, bis sie sich mit langsamen, schweren Bewegungen erhob und das Buch zurücklegte. Mühsam schleppte sie sich ins Schlafzimmer, zog sich aus und kroch unter ihr Federbett. Als Paul nach Hause kam, krächzte sie etwas von „Darmgrippe“ und „ansteckend“. Daraufhin beschloss Paul im Gästezimmer zu übernachten.

Else grübelte die halbe Nacht. Erst kurz vor Sonnenaufgang schlief sie mit einem zufriedenen Lächeln auf den Lippen ein. Als sie aufwachte, war Paul längst zur Arbeit gefahren. Mit Schwung sprang sie aus dem Bett, frühstückte ausgiebig und machte sich dann auf in die Stadt. Sie erledigte diverse Einkäufe und ging zur Bank. Anschließend gönnte sie sich ein großes Stück Torte und einen Cappuccino. Als Paul anrief, um ihr zu sagen, dass er erst sehr spät nach Hause kommen würde, schlenderte sie gerade über den Hof eines Autohauses. „Schon wieder eine Sitzung?“, fragte sie. Er bestätigte, und sie verzog grimmig die Mundwinkel. „Na warte!“, flüsterte sie.

Am darauffolgenden Mittwoch kam Paul gegen vierzehn Uhr von der Arbeit, so wie an jedem Mittwoch. Else erwartete ihn bereits.

Schatz, kannst du bitte den alten aufgerollten Teppich, der im Keller liegt, zum Wertstoffhof bringen? Sie sollen ihn sofort verbrennen! Er hat meiner Oma gehört und ich möchte nicht, dass ihn ein anderer einfach mitnimmt. Du kennst doch den Betriebsleiter, der macht das doch bestimmt für dich?“

Paul grinste. „Klar. Dem Hermann hab ich letzte Woche den Auspuff repariert. Der kann sich jetzt mal revanchieren.“

Du kannst ihm auch ein paar Gläser meiner Erdbeermarmelade mitbringen, die mag er doch so gern“, antwortete Else und lächelte zufrieden.

Ich nehm den Hänger, das olle Ding ist ziemlich groß,“ kündigte Paul an. „Karl ist gerade unten im Keller, der kann mir beim Tragen helfen.“

Gut, dass wir nette Nachbarn haben“, sagte Else. „Ich stell dir Kaffee und Kuchen hin und geh dann kurz zum Einkaufen.“

Kaum hatte Paul die Wohnung verlassen, begann Else mit ihren Vorbereitungen. Sie ging in die Küche und löste die oberste Schicht der kleinen Apfelküchlein, die für Paul gedacht waren. Sie verstreute darauf vier fein zermahlene Schlaftabletten, die sie bereits am Vormittag vorbereitet hatte. Danach klappte sie die Deckel wieder auf die Kuchenstücke.

Mit einem sauberen Steak-Messer schnitt sie sich vorsichtig in den Daumen und fing das heraustropfende Blut in einer Glasschale auf. Einige Tropfen fielen auf den Fliesenboden. Kurz überlegte sie, die Spuren wegzuwischen, entschied sich dann aber dagegen. Sie ging zur Garderobe im Flur. Mit einem Pinsel betupfte sie Schuhe, Jacke und Lederhandschuhe ihres Mannes mit dem Blut. Die leere Schale spülte sie aus und verstaute sie im Geschirrspüler. Den Pinsel steckte sie in eine Plastiktüte und dann in ihren Rucksack.

Im Schlafzimmer öffnete Else den Safe und nahm Geld und Schmuck an sich. Sie hatte nie verstanden, warum Paul so viel Bargeld hortete, aber jetzt kam ihr diese Macke ihres Mannes gerade recht. Sie verstaute die Beute im Rucksack. Zum Schluss zog sie die neuen Kleidungsstücke an, die sie in den vergangenen Tagen heimlich gekauft hatte. Jeans, schwarze Lederstiefel und Biker-Jacke wurden durch eine Perücke mit langen blonden Haaren ergänzt. Else betrachtete sich im Spiegel, malte ihre Lippen knallrot an und nickte zufrieden. Sie holte ihren gepackten Koffer aus der Abstellkammer, überprüfte durch den Türspion, ob das Treppenhaus leer, war und schlüpfte zur Tür hinaus.

Hinter dem Haus stand ein nagelneuer roter Mini-Cooper, den sie vor wenigen Tagen erstanden hatte. Bezahlt vom heimlich angelegten Tagesgeldkonto ihres Mannes, was er jedoch nicht einmal ahnen konnte. Erst am Monatsende würde auffallen, dass Geld fehlte. Geizig wie er war, hatte er sich nämlich für kostenfreie monatliche Auszüge auf Papier entschieden. Dass seine Else Online-Banking für das gemeinsame Konto beantragt hatte und daher seit Monaten genau verfolgen konnte, wie er immer wieder Geld beiseite schaffte, war ihm nicht bewusst.

Else bestieg den Wagen, startete mit dröhnendem Motorengeräusch und brauste los. Aus dem Radio tönte ihr Lieblingslied von Bob Marley „I shot the sheriff“. Bei der Vorstellung, welche Folgen ihre kleinen Vorbereitungen für Paul haben würden, lächelte sie diabolisch. Wann man sie wohl vermissen würde? Sicher erinnerte sich bald jemand an den Transport des großen schweren Teppichs, den Paul so schnell wie möglich vernichtet haben wollte. Und der Nachbarin hatte Else schon seit zwei Wochen mehrmals tränenreich geschildert, wie sehr es in ihrer Ehe kriselte und wie gemein ihr Mann sich verhielt.

Freiheit, ich komme!“, rief Else und drehte das Autoradio laut. Den Herbst ihres Lebens würde sie Paul nicht schenken. Der gehörte ihr allein.

© Marina Vogler