Ob nun Mumps oder Masern, Röteln oder Windpocken, irgendeine Kinderkrankheit hatten meine Schwester und ich eigentlich fast immer an Weihnachten. So lagen wir denn mit vor Fieber glasigen Augen gemeinsam auf dem Sofa, jede auf einer Seite, und ein großes Federbett war über uns ausgebreitet. In der kleinen Zweizimmerwohnung war es eng. Im Ofen knackten die Holzscheite und der Weihnachtsbaum, eine piksende, etwas schief gewachsene Fichte, hatte in der Ecke auf dem Nähmaschinentisch seinen Platz gefunden. Zurückblickend kann ich kaum ein Weihnachtsfest meiner frühestens Kindheit vom anderen unterscheiden, aber es gab Höhepunkte und Rituale. So war es für uns selbstverständlich, als allererstes am Weihnachtsbaum nach den beiden kleinen Vögeln zu suchen, die aus dem glänzenden Material der Tannenbaumkugeln hergestellt waren und lange weiche Schwanzfedern trugen. Mein Vater hatte einen davon 1946 als 15-jähriger Junge für seine Familie gekauft und sein Leben lang gehütet. Erst wenn wir diese beiden Vögel am Tannenbaum entdeckt hatten, begann für uns das Fest.
Ein ganz besonderes Weihnachtsgeschenk bekam ich Mitte der 1960er Jahre, ich muss wohl so sechs Jahre alt gewesen sein: Eine „Schlackerpuppe“! Kopf, Arme und Beine waren aus Kunststoff und der Körper aus hautfarbenem Stoff, der prall mit Watte gefüllt war. Die Puppe ähnelte einem Baby wesentlich mehr als die Puppen mit dem harten Kunststoffkörper, die sonst üblich waren. Es war ein ganz besonderes Geschenk, denn meine Eltern waren nicht mit Reichtümern gesegnet. Ich konnte mein Glück kaum fassen! Ich umarmte meinen Papa und leise flüsterte ich Mama ein „Danke“ ins Ohr, schließlich glaubte ja meine kleine Schwester noch an den Weihnachtsmann. Die Puppe bekam natürlich sofort einen Namen: Susi sollte sie heißen. Ich zog Susi an mich, weinte vor Freude, zerrte sie unter das Federbett und fiel augenblicklich in einen tiefen Fieberschlaf. Am Weihnachtsmorgen war ich das glücklichste Kind der Welt! Es gab für lange Zeit nichts schöneres und wichtigeres als diese Puppe. Sie hat mir zugehört und sie hat mich getröstet, wenn ich traurig war. Was hätte ich wohl ohne sie getan? Sie ist auch heute noch bei mir. Wenn ich den Schuhkarton, in dem sie liegt, durch Zufall ganz hinten unten im Schrank sehe, dann hüpft mein Herz und ich spüre wieder das Glück dieser Kindertage.
© Marina Vogler 2016-12