Als wir Kinder waren, gab es für meine Schwestern und mich nichts schöneres, als die Tage, an denen Oma zu Besuch kam. Das passierte so zwei bis dreimal im Jahr. Wir hockten alle drei am Fenster, um nach ihr Ausschau zu halten. Meistens kam sie mit dem Taxi vom Bahnhof. Wir jubelten schon, wenn der schwarze Wagen in die Straße einbog. Früher waren Taxen nämlich schwarz und nicht weiß, wie sie es heute sind. Das Auto stoppte mitten auf der Straße. Dann stieg der Fahrer aus, ging zur rechten hinteren Autotür, öffnete sie und reichte unserer Oma seinen Arm, damit das Aussteigen leichter ging. Dann holte er den kleinen Koffer und begleitete Oma zur Haustür. Währenddessen rannten wir zur Tür. Jede wollte die erste sein, und das Geschrei war groß. Immer. Jedenfalls als wir klein waren.
Oma bezahlte den Taxifahrer, dann legte sie ihre graue Ledertasche auf dem kleinen Schrank im Flur ab und lächelte uns an: „Na, habt ihr schon gewartet?“ Hatten wir! Unsere Großmutter nahm ihren Hut mit der lustigen grünen Feder ab und legte ihn vorsichtig ins oberste Regal der Garderobe. Einmal hatten wir damit „Verkleiden“ gespielt, seitdem lag er immer außerhalb unserer Reichweite. Danach zog sie den dunklen Mantel mit den goldenen Knöpfen aus, und hängte ihn auf einen Bügel, das schimmernde Halstuch folgte. Vor dem großen Spiegel kontrollierte sie den Sitz ihrer Haarnadeln, die ihr weißes Haar, das zu einem Knoten gewunden war, zusammenhielten. Im Flur verbreitete sich währenddessen der sanfte Geruch von Lavendel, der Duft von Oma.
Dann aber wurde es spannend. Wie immer griff sie nach der großen Handtasche und spazierte ins Wohnzimmer, wo sie in dem großen Ohrensessel, der neben dem Ofen stand, Platz nahm und ihren Rock glatt strich. Wir Mädchen plapperten aufgeregt durcheinander. Jede wollte der Oma als erste erzählen, was in der letzten Zeit passiert war. Es dauerte so unendlich lange, bis unsere Großmutter die Tasche öffnete und sorgsam ihre Handarbeitssachen, meistens etwas zum Häkeln oder zum Sticken, auf den kleinen Tisch neben ihrem Sessel legte. Der nächste Griff in die Tasche war der spannendste: Immer brachte sie uns kleine Geschenke mit. Mal waren es Puppenkleider, dann Zubehör für den Kaufmannsladen, ein Spiel oder auch mal ein Buch, aus dem sie uns dann stundenlang wunderschöne Geschichten vorlas. Wir waren glücklich. „Danke Oma, du bist die Beste!“
Im Laufe der Jahre wandelten sich die Geschenke. Weil Spielzeug uninteressant wurde, ging Oma für kurze Zeit zu Naschereien über, aber da gab es dann einige Male Stress mit Mama: „Das ist nicht gut für die Zähne“! Oma änderte dann die Taktik. Sie brachte uns fortan selbstbestickte Taschentücher mit, denn Handarbeit in jeder Form war ja ihr großes Hobby. Die Taschentücher hatten unterschiedliche Motive. Mal waren es Maiglöckchen, dann eine Rose, Mohnblumen oder Flieder. Wenn wir uns mal schlecht benahmen, dann drohte Oma damit, demnächst einen Kaktus zu sticken. Sie zeichnete ihre Motive nämlich selbst und machte dann eine Stickvorlage daraus. Darauf war sie sehr stolz, sie machte das noch bis ins hohe Alter. In den Tüchern versteckt fand sich jedes Mal ein kleiner Geldbetrag für jede von uns. Die Taschentücher wanderten regelmäßig in den Wäscheschrank, und für das Geld fanden wir immer eine sehr gute Verwendung.
Gestern fand ich beim Aufräumen im Schlafzimmer einen kleinen Karton im Schrank, ganz hinten, unten. Er war recht verstaubt und ich konnte mich nicht erinnern, woher er stammte. Als ich den Deckel abhob, strömte mir der zarte Duft von Lavendel entgegen und mein Herz hüpfte vor Freude. Da lagen sie, die Blumentaschentücher von Oma.
© Marina Vogler 2017-01-04
Liebe Marina,
wie schön, dass Du jetzt ein Buch veröffentlicht hast, ich wünsche Dir viel Erfolg damit. Ich habe den Bericht im Reporter gelesen und sofort hier geschaut. Toll, dass Du das alles neben alle anderen Tätigkeiten schaffts.
Liebe Grüße
Caroline
Danke Caroline,
es ist ein spannendes Abenteuer.